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Title
Wegbereiter der Globalisierung. Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er–2000er Jahre)


Author(s)
Marx, Christian
Published
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
912 S.
Price
€ 120,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christopher Neumaier, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Am Beispiel der westeuropäischen chemischen Industrie zeigt Christian Marx überzeugend auf, wie multinationale Konzerne zwischen den 1960er- und 2000er-Jahren als „Wegbereiter der Globalisierung“ agierten. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die 2018 vollzogene „Monster-Hochzeit“1 zwischen der Bayer AG und der US-amerikanischen Saatgutfirma Monsanto. Diese bis zum Jahresbeginn 2024 teuerste Übernahme eines Unternehmens durch einen deutschen Konzern sieht Marx als Teil einer Unternehmensstrategie, die als Reaktion auf die Konjunkturabschwächung und die Währungsturbulenzen der 1960er- und 1970er-Jahre entstanden ist: Auslandsinvestitionen haben einen „Transformations- und Internationalisierungsprozess im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“ (S. 16) eingeleitet, der bis zum Jahr 2000 eine „globalisierte Welt“ entstehen ließ. Marx betont, dass die Neuausrichtung die Struktur der Chemiekonzerne grundlegend veränderte, da ausländische Märkte nicht nur hinsichtlich der Absatzmöglichkeiten der Produkte wichtiger wurden. Überdies nahm in den Konzernen die Bedeutung der Beschäftigten und der Sachinvestitionen am Stammsitz bzw. im Stammland in Relation zu ausländischen Standorten ab.

Dass die Folgen der Internationalisierungsprozesse sich bis heute nicht immer abschließend analysieren und bewerten lassen, zeigt die Akquisition von Monsanto, die aktuell bisweilen als „Albtraum-Übernahme“2 bezeichnet wird. Andere Prozesse können demgegenüber leichter historisch eingeordnet werden, da sie als abgeschlossen gelten. Hierzu zählt insbesondere die Auflösung der Hoechst AG durch die Fusion mit Rhône-Polenc zu Aventis und anschließend zu Sanofi-Aventis (heute Sanofi) zwischen 1999 und 2004. Dadurch verschwand mit der Hoechst AG ein traditionsreiches Chemieunternehmen, an das nur noch der Industriepark Höchst auf dem ehemaligen Werksgelände erinnert.

Konkret analysiert Marx am Beispiel von vier wichtigen westeuropäischen Chemiekonzernen – Bayer, Hoechst, AKU/VGF/Akzo und Rhône-Polenc –, wie und warum im späten 20. Jahrhundert multinationale Unternehmen entstanden. Diese strategische Neuausrichtung lasse sich am Beispiel von Auslandsinvestitionen nachzeichnen, die im Vergleich zu den Inlandsinvestitionen massiv an Bedeutung gewannen. Darüber hinaus verweist Marx in seinen Fallstudien immer wieder auf andere zentrale Unternehmen der chemischen- und pharmazeutischen Industrie, wie die BASF, DuPont, Imperial Chemical Industries (ICI), Merck, Schering und Wacker Chemie, wodurch sich der Ausbau des Auslandsgeschäfts der vier untersuchten Unternehmen sowohl in nationale als auch in europäische und globale Entwicklungen einordnen lässt.

Marx betont dabei die entscheidende Bedeutung der 1970er-Jahre als „Zäsur in der Geschichte multinationaler Unternehmen [...], die sich uneingeschränkt in das Narrativ eines beschleunigten Strukturwandels einfügen“ (S. 17). Gleichwohl sei es dabei nicht zu einem „Strukturbruch“ und einem „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“3 gekommen, vielmehr handele es sich um eine „Phase multipler Brüche“ (S. 18), argumentiert Marx. Diese These wird anschließend auf der Basis eines umfassenden Quellenfundus eingehend diskutiert und anhand zahlreicher Argumente schlüssig belegt. Marx gelingt es dabei, die Eigenzeitlichkeiten der Chemieunternehmen genauso wie die allgemeinen Trends der Globalisierung und der Vermarktlichung herauszuarbeiten, die die Unternehmensstrategien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Hierin liegt die große Stärke dieser quellengesättigten Arbeit.

Eingangs behandelt Marx die „Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie“ und gibt einen konzisen Überblick zu den allgemeinen ökonomischen Entwicklungen nach 1945 sowie zu den Spezifika der Chemieindustrie und ihren Auslandsaktivitäten. Anschließend folgen zwei chronologisch unterteilte Hauptkapitel, die die „Auslandsexpansion als Reaktion auf die neuen Herausforderungen der langen 1970er Jahre (1965–1982)“ und den „Aufbruch in Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus (1983–2005)“ behandeln. Jedes der Kapitel ist dann wiederum so strukturiert, dass die Entwicklung der Auslandsinvestitionen für jeden Konzern einzeln präsentiert werden. Zum Beispiel legt Marx dar, wie die Auslandsinvestitionen und Auslandsbeteiligungen zunahmen und welche Rolle hierbei die Absatzmärkte in Europa, (Nord-)Amerika, Afrika oder Asien spielten. Zugleich behandelt Marx, wie sich die Struktur der Konzerne im Zuge der zunehmenden Auslandsaktivitäten veränderte und welche Bedeutung hierfür die Entscheidungen des Managements hatten. Da sich in manchen Fällen die Strategien der Unternehmen ähnelten, kommt es aufgrund der Gliederung zu Redundanzen, da zum Beispiel die Bedeutung ausländischer Absatzmärkte für jedes Unternehmen einzeln behandelt wird. Zudem fehlt bisweilen eine Synthese, in der alle Entwicklungen gebündelt zusammengefasst werden, da es für jedes Unternehmen ein eigenes Zwischenfazit gibt.

Andere Entwicklungen wiederum waren spezifisch für bestimmte Konzerne, sodass keine Querbezüge hergestellt werden können und hier die jeweils separate Darstellung der Konzerne schlüssig ist. Hierzu zählen zum Beispiel die Fusion von AKU und Glanzstoff sowie AKU und KZO zu Enka und Akzo und der Zusammenschluss zwischen der Hoechst AG und Rhône-Poulenc. Diese Unternehmensentscheidungen – genauso wie die zahlreichen Übernahmen, wie des US-Unternehmens Celanese durch Hoechst 1986 – verdeutlichen überdies, wie Chemiekonzerne versuchten, ihre Marktpräsenz auf den als relevant eingestuften Absatzmärkten zu verbessern.

Es habe sich aber auch das Managementleitbild geändert, argumentiert Marx weiter. Da bis in die 1970er-Jahre insbesondere diversifizierte Konzerne als wettbewerbsfähig galten, seien Chemieunternehmen meist in den fünf Produktbereichen Pharma, pflanzliche Arzneimittel, Kunststoffe, Chemiefasern und Düngemittel aktiv gewesen. Anfang der 1980er-Jahre habe sich jedoch das Ideal des schlanken Unternehmens verbreitet4, infolgedessen bündelten Unternehmen ihre Kompetenzen auf bestimmte Kernbereiche. So ließ sich nach dieser Vorstellung die Marktposition zu Zeiten konjunktureller Schwächephasen verbessern, indem unrentable Sparten abgestoßen und gegebenenfalls Wettbewerber in diesen Feldern aufgekauft wurden. Exemplarisch für diese Entwicklung steht die Konzentration der Hoechst AG auf die Life Sciences (Pharma und Pflanzenschutz) in den 1990er-Jahren. Darüber hinaus passte sich diese Entwicklung in den „Aufstieg des Finanzmarkt-Kapitalismus“ (S. 28) ein, als dessen Merkmal Marx die Deregulierung der Finanzmärkte identifiziert, die zur Vermarktlichung und Beschleunigung der Transaktionen geführt habe.5 Diese „Liberalisierung der globalen Wirtschaft“ (S. 28) habe wiederum die Unternehmensstrategien und damit letztlich die Strukturen der Konzerne geprägt, die nun auch aufgrund ihrer übersichtlicheren Struktur leichter von Finanzanalysten bewertet werden konnten.

Welche Rolle Digitalisierung und die Nutzung von Computern für diese Entwicklung oder aber auch für die Produktentwicklung und Produktionsprozesse in den Unternehmen spielten, wird dabei jedoch nicht eingehend behandelt. Dieser Umstand lässt aufhorchen, zumal es laut einer verbreiteten These „nach dem Boom“ schließlich zum „Aufstieg des digitalen Finanzmarktkapitalismus“6 kam. Zu fragen wäre folglich, wie Computer die Finanzmarktgeschäfte veränderten und das wiederum die strategische Ausrichtung der Chemieunternehmen prägte.7 Ebenfalls zu untersuchen wäre, wie Computer die Arbeit in den Büros der Buchhaltung, Logistik und Produktentwicklung veränderten und wie die Produktionsprozesse umgestellt werden mussten, als pneumatische durch digitale Regelungstechnik ersetzt wurde. Damit sind mögliche Fragen für zukünftige Forschungsvorhaben zur Chemieindustrie angedeutet, die auf Marx’ Studie aufbauen können, die im Hinblick auf die Entwicklung des Auslandsgeschäfts ein lesenswertes Referenzwerk bleiben wird.

Anmerkungen:
1 Jens Glüsing / Roland Nelles / Michaela Schießl, „Monster-Hochzeit“, in: Der Spiegel, 24.03.2018, S. 78–82.
2 Sebastian Balzter, Der tiefe Fall der Bayer AG, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2023, S. 22.
3 Für diese These vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. ergänzte Aufl., Göttingen 2012 (1. Aufl. 2008).
4 Vgl. Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002.
5 Zur Vermarktlichung vgl. Ralf Ahrens / Marcus Böick / Marcel vom Lehn, Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 12,3 (2015), S. 393–420, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2015/5264 (08.02.2024).
6 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 12.
7 Zur Computerisierung der Kreditwirtschaft vgl. Martin Schmitt, Die Digitalisierung der Kreditwirtschaft. Computereinsatz in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR 1957–1991, Göttingen 2021.

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